Am Chinesischen Zoll bin ich etwas nervös, ich habe mein Visum um einen Tag überzogen. Der Beamte ruft denn auch einen Kollegen herbei und sie beraten. Doch am Ende winken sie mich durch, wohl einfach weil sie kein Englisch sprechen konnten.
Ich muss mich erst etwas daran gewöhnen, dass hier nun so weit im Osten Asiens plötzlich so viele Europäische Gesichter auftauchen. Auf dem Land dominieren dann aber Menschen Mongolischer Abstammung, die Buryat.
Im ersten Ort stürme ich gleich in den ersten Laden rein. Ich halte die Objekte der Begierde in die Luft wie eben gewonnene Trophäen: dunkles Brot und Käse!
OK, sind wir ehrlich, so eine Veloreise ist eine gefährliche Sache. Die Gefahren lauern an fast jeder Ecke. also heute zum Beispiel: In einem kleinen Dorfladen kaufe ich ein Orangen-Getränk. Etwas weiter auf einer Anhöhe mache ich dann Pause und trinke die Liter-Flasche leer. Als ich wieder weiter fahren will… woah, was ist jetzt los? Ich weiten Kurven torkle ich regelrecht über die Strasse. Ein Blick auf mein eben erstandenes Getränk bestätigt, dass dieses doch tatsächlich alkoholhaltig ist und während der nächsten Stunde mache ich mit einem veritablen Rausch die Strasse unsicher.
Am Nachmittag wird es jeweils fast unangenehm heiss und jedes Gewässer auf das ich treffe, wird sofort für ein erfrischendes Bad genutzt. Bei dieser Hitze türmen sich aber auch jeden Nachmittag mächtige Gewitterwolken auf und nicht selten kriege ich schon während der Fahrt meine Abkühlung. Kennt ihr diesen Geruch eines Sommergewitters, wenn das Wasser auf dem heissen Boden gleich wieder verdampft ? Unbeschreiblich!
Die Fähre über den Baikalsee, welche ich nehmen will, fährt nur einmal in der Woche und so bin ich etwas in Zeitnot. Trotzdem will ich nicht auf der Fernstrasse nach Ulan Ude fahren. Statt dessen wähle ich eine Route etwas nördlich davon. Hätte ich gewusst, dass ich dadurch noch zusätzlich 200km auf sandigen Pisten fahren müsste, ich weiss nicht ob ich dann diese Route immer noch gewählt haben würde. Hätte ich aber auch gewusst durch was für eine Landschaft die Strasse führt, hätte ich mich bestimmt wieder dafür entschieden. Es ist einfach pure Wildnis. Blumenwiesen die so bunt sind, wie ich sie in meiner Fantasie nicht vorstellen könnte und bis an den Horizont reichen, dichte Wälder aus Birken und Kiefern, kleine und grosse Seen. Etwa alle 50-100km hat es ein kleines Dorf welches aus diesen typischen Blockhäusern besteht.
Wenn die Leute mich sehen, strecken sie mir nicht ungefragt irgend ein Smartphone ins Gesicht um ein Foto von diesem kuriosen Fremden zu machen, wie das heute an so vielen Orten Unsitte geworden ist. Die Leute wollen mit mir reden, sie wollen wissen was ich tue und woher ich komme und sind begeistert. Sie schütteln mir die Hände, klopfen auf meine Schultern und umarmen mich spontan.
Der Bürgermeister eines kleinen Ortes schenkt mir seine eben selbst gesuchten Beeren, Jemand hat einen Sack voll Lebensmittel gekauft und schenk mir den einfach so. Ich werde regelrecht getragen auf einer Welle der Herzlichkeit wie es mir so nur ganz selten passiert. Die Buryat hier in Sibirien haben ein grosses Herz und sie haben es am rechten Fleck!
Nach Ulan Ude geht es über einen kleinen Pass an das Ostufer des Baikalsee. Erst bin ich etwas verwundert woher denn plötzlich all der Verkehr kommt. Doch dann wird mir klar. Es ist Wochenende und alle fahren raus an den See, ALLE. Als ich das Ufer erreiche, kann ich meinen Augen nicht trauen. Überall wird gezeltet, gegrillt, gefeiert, eine einzige grosse Outdoor Party. Nach dem Wochenende habe ich den See dann aber wieder fast für mich alleine.
Campieren auf einer Veloreise, das ist nicht immer idyllisch schön auf einer Wiese an einem Fluss, im Gegenteil. Meist verbringe ich die Nacht regelrecht im Strassengraben, hinter einem Erdhaufen oder in einem feuchten, dunklen Wald. Hier in Sibirien natürlich nicht, fast jeden Tag zelte ich an einem Gewässer. Campieren am Baikalsee, das ist die Königsliga: hunderte Kilometer unverbaute, nur ganz schwach besiedelte Küste an einem kristallklaren See mit Trinkwasserqualität. Besser geht es einfach nicht mehr. Dass dieser eine See einen Fünftel des ganzen (geschmolzenen) Süsswassers der Welt enthält ist kaum zu glauben.
Nach 14 Tagen in denen ich extrem viel und lange gefahren bin, erreiche ich Ust-Barguzin gerade rechtzeitig für die Fähre welche immer Dienstags ablegt. Zeit zum Fahren hatte ich ja wirklich genug, im Moment sind es 19 Std. Tageslicht!
Mit der Fähre geht es rüber zur Insel Olkhon. Dass wir hier auf dem tiefsten See der Welt mit der Fähre auf eine Sandbank fahren und der Kapitän über ein Stunde braucht um das Boot wieder frei zu kriegen ist ja irgendwie schon ironisch. Auf Olkhon geniesse ich dann eine verdiente Pause und erkunde die Insel. Nach Irkutsk geht es wieder zurück zum Baikalsee dem ich nun am Südufer entlang zurück nach Ulan Ude fahre. In die erste Reihe hat sich hier die Eisenbahnlinie der Trans-Sib vorgedrängt und die Strasse und mich auf den zweiten Platz verwiesen. Doch ich erkenne schnell, dass immer bei einem Bach eine kleine Piste unter dem Geleise zum See runter führt. So finde ich auch hier jeden Abend einen erstklassigen Zeltplatz an einem Strand und der Abendlichen Schwimmrunde steht nichts mehr im Wege.
Als die Strasse sich dann vom See verabschiedet, will ich das noch nicht tun. Ich hänge noch eine kleine Zusatzschleife am Selenga-Delta ein. Ich zelte ich an einem tollen Strand gleich hinter einem kleinen orthodoxen Kloster. Am Abend kommen ein paar Leute vom Dorf vorbei und sind interessiert woher ich komme. Schliesslich bekomme ich einen grossen geräucherten Omul (einen Fisch den es nur im Baikalsee gibt) geschenkt. Am folgenden Tag fahre ich wieder durch viele dieser kleinen Dörfer.
Bunte Holzhäuser mit geschnitzten Fenstern säumen die Strasse. Ein alter Mann winkt und ruft von seiner Bank „atkuda vi?“ (woher kommst Du?) „Shveytsariya“ rufe ich zurück und erwidere den Gruss. Jemand rattert mit seiner ‚Ural’, einem russischen Motorrad mit Seitenwagen an mir vorbei und schaut sich verwundert um. Frauen bieten im Wald gesuchte Eierschwämme, Brombeeren und Erdbeeren zum Verkauf an. Vermutlich hat es vor 50 Jahren genau so ausgesehen in diesen abgelegenen Orten, hoffentlich in 50 Jahren immer noch.
Rechtzeitig habe ich zum Glück noch erfahren, dass ich seit ein paar Wochen kein Visum mehr brauche für die Mongolei. Das sind ja mal erfreuliche News von der Seite. Von Ulan Ude aus fahre ich also runter zur Grenze mit der Mongolei. Kurz davor treffe ich zwei französische Radler. Während sie klagen über die schlechten, sandigen Pisten da, leuchten meine Augen immer mehr und mein Grinsen wird breiter.
In den letzten Wochen habe ich so oft auf die Russisch-Schweizerische Freundschaft angestossen, das sollte einen Weile halten…