In alten buddhistischen Schriften und Sanskrit-Texten wird der Berg Kailash als Meru, 'Nabel der Welt' bezeichnet. Über Jahrtausende inspirierte er die Menschen und ist für Millionen von Hindus, Buddhisten, Jains und Anhänger der Bön-Religion der Mittelpunkt des Universums. Hier verwischen die Religionsunterschiede, denn jeder Pilger gehört zu der grossen Gemeinschaft von Wahrheitssuchern, die nach der selben höheren Wirklichkeit suchen und die letztendlich auch für alle gleich ist.

Mit einer Höhe von 6714 m ist der Kailash nicht der höchste Berg, aber gleichwohl scheinen alle Bergriesen in dieser Hochgebirgslandschaft vor ihm zurückzutreten.

Unweit des Kailash, zu Füssen des Gurla Mandhata (7728 m), liegen der mythenbestzte und ebenfalls heilige Manasarovar-See und , nur durch einen Hügel getrennt, der See Raskas-Tal, der von nicht minderer mythologischer Bedeutung ist. Diese beiden Seen bilden mit einer durchschnittlichen Höhe von 4550 m die höchsten Süsswasserreservoirs unseres heimischen Planeten.

Seit tausenden von Jahren ist der heilige Berg Kailash eine unermessliche Quelle der Inspiration, zu der sich eine zahllose Schar von Heiligen, Weisen, Yogis und Eremiten hingezogen fühlten, um in seinem Schatten die Erleuchtung zu finden. Für die Pilger ist es die Kora, die pilgermässige Umrundung, die ihnen die spirituelle Reinigung und die letztendliche Erlösung bringen soll.

Im weiteren Umkreis des Kailash entspringen vier der grössten Flüsse Asiens. Im Osten der Brahmaputra oder Tsangpo, der Karnali im Süden, der Sutlej im Westen und der Indus im Norden.

Der Kailash als Zentrum eines natürlichen Mandalas

In der buddhistischen Tradition des Weltenberggedankens ist der Kailash das Zentrum eines von der Natur geschaffenen riesigen vollendeten Mandalas , in dem sowohl die Seen und Flüsse, als auch die anderen landschaftlichen Besonderheiten einen Platz einnehmen.

Hier vermengt sich das Natürliche mit dem Wunderbaren, bis beide Unterschiede miteinander verschmelzen und nicht mehr zu erkennen sind. So wird ein unscheinbares Felsloch zu Milarepas Essschale, ein Wasserfall zum Schweif von Gesars Pferd, alles hat in diesem wunderbaren Mandala seinen Platz.

Mandala bedeutet schlicht 'Kreis', 'Ring' oder auch 'Scheibe'. Im ursprünglichen Sinn wurde das Mandala im Alten Indien ( um 1000 v. Chr.) zur Veranschaulichung der Darstellung der Welt verwendet. Dabei sah man die Erde als eine kreisförmige Scheibe, von der konzentrisch 'Ringozeane' und 'Ringkontinente' zum Mittelpunkt mit dem Weltenberg Meru, als kosmische Achse, führten. Mit einer inhaltlichen Veränderung ist das Mandala auch in den Buddhismus eingeflossen und wurde hier zu einem geometrisch aufgebauten Gebilde, das dem Meditierenden als Visualisationshilfe dient. Mit einem Mandala wird das Sich-Vorstellen der Gottheiten (Buddhas) verbessert und der Meditierende kann so leichter auf dem Weg der geistigen Vervollkommnung voranschreiten.

Die Kora

Die rituelle Umwanderung, die Kora, des Kailash hat eine lange Tradition. Seit Jahrtausenden pilgern Gläubige, keine Mühsal scheuend, aus allen Himmelsrichtungen über verschneite, hohe Bergpässe oder zugigen Hochebenen. Sie alle werden von dem Wunsch getrieben, den Kailash zu umwandern

Die Parikrama wird in der Regel per pedes durchgeführt, wobei der Pilger Mantren spricht, die heiligen Silben des Avalokitesavara wiederholt: OM MANI PADME HUM.

Als verdienstvoller gilt allerdings die Umrundung durch Niederwerfen und Ausmessen mit der eigenen Körperlänge. Die Hände erheben sich , falten sich, werden zu Stirn, Mund und Herz geführt, es folgt das Niederknien und das sich in voller Länge auf den Boden strecken, bis Knie, Bauch, Brust, Mund, Stirne und die Hände den Boden berühren, danach aufstehen und den Vorgang, eine Körperlänge weiter, wiederholen, alles in tiefster Hingabe und Demut. Bei dieser Prostration ist der Körper mit einer Lederschürze bedeckt, die Hände tragen lederne Handschuhe.

Diese rituelle Umwanderung ist Teil des buddhistischen Erleuchtungsdenkens, der auf der Grundlage von Mitleid, durch Niederwerfungen, Opfern, Almosen usw. möglichst viel an verdienstvollen Handlungen anhäuft. Der Gläubige erhofft sich in diesem Zusammenhang ein glücklicheres Los in seinem derzeitigen Leben oder eine bessere Inkarnation.

Die Sinnbildlichkeit der Kora ist augenfällig: alles kreist um einen Fixpunkt. Das Schliessen des grossen Kreises - der Kreis selbst ist ein Symbol des unteilbaren Göttlichen - ist eine Konzentration auf den Mittelpunkt, auf Gott oder das Göttliche, hier liegt der kosmische Punkt an dem alles beginnt und auch endet. Der Mensch ist damit Teil der Kreisbewegung, die sich um den Mittelpunkt des Universums bewegt. So wie Meru der Fixpunkt des Universums, des körperlosen ist, ist der Kailash sein Gegenstück auf der körperlichen Ebene. In dem der Pilger diese Ordnung durch sein Wandern nachvollzieht, wird dieser damit eins und wird vom herausgelösten Bruchstück zu einem Teil des Ganzen. Eine Pilgerschaft zum Kailash bedeutet deshalb auch immer eine Reise ins eigene ich, zu sich selbst.