Ein langer Tag geht zu Ende, als ich gegen Abend in ein kleines Restaurant am Strassenrand gehe. Vor zwei Tagen habe ich die Grenze nach Mexiko überschritten. Ich bin gerade dabei die Baja California ganz im Norden zu queren. Interessiert mustern mich die Besitzer des Restaurant - ein älteres Ehepaar- und fragen mich aus. Ich beginne von meinen Plänen zu erzählen, dass ich in den nächsten 4 Monaten quer durch Mexiko radeln will. Das ferne Ziel Yucatan erwähne ich aber nicht. Dazu flöst mir die Distanz, die vor mir liegt noch zuviel Respekt ein.

Auf die Frage, wo ich den heute übernachte werde, zeige ich ihnen mein Zelt, dass ich ein paar Kilometer weiter aufstellen möchte. Sofort bieten sie mir an, doch die Nacht bei ihnen zu verbringen. Gerne nehme ich an. Aus der Garage wird eine alte Matratze geholt und in das Nebenzimmer gestellt. Ohne dass ich etwas gesagt hätte, steht plötzlich ein Nachtessen auf dem Tisch. Am nächsten Morgen werde ich früh geweckt. Das Frühstück ist schon bereit. Auf dem Herd steht heisses Wasser um mich zu waschen. Zu guter Letzt geben sie mir sogar noch etwas Proviant mit auf den Weg. Ich darf natürlich keinen Peso bezahlen - das sei halt Gastfreundschaft. Die Verabschiedung wird so herzlich, als ob wir uns schon Jahre gekannt hätten. In totaler Hochstimmung fahre ich weiter. Das ist vielleicht ein toller Start.

Dabei hatte doch alles so schlecht begonnen. Nur zu gut erinnere ich mich zurück an den Start vor ein paar Tagen in Los Angeles. Ohne Karte, mit verdrehtem Lenker (den Schlüssel hatte ich im Flugzeug verloren) und einem unbequemen Rucksack am Rücken (alles schwere ins Handgepäck) plagte ich mich auf bis zu 8-spurigen Highways vom Flughafen weg Richtung Süden.

Baja California heisst mein erstes Ziel. Auf der wüstenartigen Halbinsel gibt es mehr oder weniger nur eine einzige asphaltierte Strasse die zur Südspitze runter führt. Doch das scheint mir dann doch ein bisschen zu banal. Mindestens eine Piste will ich schon fahren. So wähle ich denn eine Route, die der Ostküste folgend erst später auf die Hauptstrasse trifft. In San Felipe gönne ich mir nochmals einen Tag Pause, bevor es richtig los geht. Auf dem Zeltplatz bin ich bald die grosse Attraktion. Was hat denn einer mit dem Rad hier zu suchen? Ich versuche mich über den Zustand der folgenden Piste zu informieren. Als ich zwei Tage später auf die Hauptstrasse treffe, weiss ich dass jene mit den schlechtesten Prognosen Recht gehabt hatten. Ein schreckliches 'Waschbrett' liegt hinter mir. Aber nicht nur ab und zu mal ein paar hundert Meter, Nein 130km lang ein einziges Waschbrett! Ich spüre jeden einzelnen Knochen.

Eine Reise durch die Baja California ohne Skorpionen und Klapperschlangen gesehen zu haben, ist nur das Halbe. Von den Dingern gibt es schliesslich jede Menge hier. Obwohl ich jeden Morgen vorsichtig Schuhe und Taschen ausschüttle sehe ich keinen einzigen Skorpion. Dafür mache ich Bekanntschaft mit einer Klapperschlange, als ich auf einer verlassen Piste entlangfahre. Zum Glück bin ich gerade in einer Steigung drin, so kann ich das Tier, das am Wegrand liegt, überhaupt erkennen und rechtzeitig anhalten. Völlig regungslos liegt sie da. Um zu sehen, ob sie überhaupt lebendig ist nehme ich ein paar Steine auf und werfe den Ersten. Obwohl er sie fast trifft macht das Tier keine Bewegung. Ist wohl tot denke ich und werfe die restlichen Steine die ich noch in der Hand halte weg. Da plötzlich bewegt sie sich doch noch und fängt mit dem Schwanz an zu rasseln. Der Puls steigt sprungartig an. Was wenn ich jetzt zu ihr hingegangen wären...? Ich stelle mich zum Sprint bereit und rase wie ein Wilder ganz am Rande der Piste vorbei.

Zeitweise komme es mir vor, als fahre ich durch einen riesigen Botanischen Garten. Besonders die Artenvielfalt der Kakteen beeindruckt mich. Bis zu 10 Meter hohe Exemplare säumen den Weg. Abends stelle ich mein Zelt jeweils mitten in den Kakteenfeldern auf. Als bei einbrechender Dunkelheit auch noch Kojoten zu heulen beginnen, ist die Stimmung perfekt.

Besonders beeindruckt bin ich von der bisher nicht gekannten, unglaublichen Weite. Tagelang ist das Terrain einfach topfeben. Nichts als Salzbüsche, Kakteen und Sand. Doch diese Weite, die Einsamkeit, wird bald zu meinem grössten Feind. Ich getraue mich bald gar nicht mehr über den Lenker in die Ferne zu sehen. Die Distanz scheint unendlich. Ich versuche mich abzulenken, denke an alles Mögliche und Unmögliche. Doch schlussendlich gelange ich immer wieder zur Rechnerei: Wie weit bin ich schon? Wenn ich jetzt so schnell fahre, wie lange brauche ich dann noch? u.s.w. 

An der Südspitze der Baja geniesse ich zum Schluss noch einige ruhige Tage an den vielen tollen Stränden. Mit meinem kleinen Zelt falle ich auf wie ein bunter Hund, unter den vielen Amis mit ihren hyper-grossen Wohnmobilen. Ich werde oft eingeladen. Nach soviel Einsamkeit geniesse ich die Aufmerksamkeit, die man mir schenkt. Ich kann stundenlang erzählen. 

Nach den kahlen Ebenen der Baja geniesse ich die Fahrt durch die grünen Nadelwälder im nördlichen Festland. Der Abstecher in die Barranca del Cobre - die Kupferschlucht - wird zur Fahrt der Gegensätze. Morgens beim Start in Creel auf 2300 m.ü.M. friert mich bei 7 C doch recht. Als ich am nächsten Tag auf 500 m.ü.M. ankomme, sehe ich das schon etwas anders. Es ist inzwischen 41 C heiss im Schatten., nur gibt es den nirgends... Auf einer holprigen Piste, die sich förmlich in die Tiefe runter stürzt, fahre ich nach Batopilas, das mitten im Herzen der Schlucht liegt. 

Die nächsten Wochen fahre ich über die grosse Sierra madre occidential, die Hochebene die den grössten Teil von Nord-Mexikos bedeckt. Es ist das 'Caballero-Land', der 'Wilde Westen Mexikos'. Die Distanzen bleiben gross, werden jetzt aber öfters unterbrochen von vielen ehemaligen Silberabbau-Orten. Tolle Kathedralen und viele andere Bauten im Kolonialstil der Spanier zeugen vom ehemaligen Reichtum dieser Orte als hier anfangs des 19. Jahrhundert während über 20 Jahren ca. 30% des Weltverbrauchs an Silber abgebaut wurde.

Unter teilweise unmenschlichen Umständen mussten sich hier vor allen Indio-Kinder in den Mienen buchstäblich zu Tode schuften.

Endlich geht es in die Berge. 'Mill cumbres' - tausend Gipfel - steht eines Morgens bei einer Stadtausfahrt gross auf einem Schild. Der Name des kleinen Ortes sollte zum Motto der nächsten Wochen werden. Fast täglich führt die Strasse auf 3000m.ü.M. und wieder runter. Ich bin in Hochstimmung. Das ist mein Element. Zudem erwische ich eine tolle Route, die immer wieder gespickt ist mit Pistenabschnitten. Auf fast vollkommen unbefahrenen Strassen, durch grossartige Landschaft nähere ich mich immer mehr Mexiko City. Vor dem Start hatten mich viele vor allem vor dem schweren Verkehr in Mexiko gewarnt. Doch mit Ausnahme in unmittelbarer Nähe von Mexiko City, wo ich sogar einmal ein Stück auf einer Autobahn fahre bleibe ich davon verschont.

Inzwischen hat die Regenzeit eingesetzt. Das äussert sich dadurch, dass jeweils Abends und in der Nacht oft Gewitter niedergehen. Eigentlich kein Problem für mich, im Gegenteil, ich freue mich am überall plötzlich spriessenden Grün. Doch ab und zu hält sich das Wetter auch nicht an den normalen Zeitplan und erwischt mich voll. Normalerweise suche ich mir dann immer einen trockenen Unterstand. Doch diesmal regnet es schon seit bald 2 Stunden und es ist auch nicht mehr weit bis zur nächsten Stadt - Also los. Aus der verspritzten Brille sehe ich bald nichts mehr. Bei einer steilen Abfahrt dann plötzlich ein Schlag auf das Hinterrad. Ich bin über irgend einen Gegenstand gefahren - Platter! Im strömenden Regen versuche ich den Schaden zu beheben. Bald darauf weiss ich, dass auch der Reserve-Schlauch vom Scheuern in der Tasche ein Loch hat, also Flicken. Unter meiner Jacke versuche ich das Zeug's einigermassen trocken zu halten, doch die Feuchtigkeit dringt überall hin. Nach vier Versuchen gebe ich frustriert auf. Zwei Stunden später erreiche ich schiebend im Dunkeln die Stadt. Jetzt nur noch etwas trockenes... 

Eigentlich wollte ich ja möglichst viele der grossen Vulkane besteigen. Doch gerade als ich in dieser Gegend bin, habe ich die einzige längere Schlechtwetter-Periode. Auf den Popocatepel will ich aber unbedingt rauf, Wetter hin oder her. Im strömenden Regen fahre ich zur Hütte auf 3950 m.ü.M. hoch. Am nächsten Morgen versuchen wir zu fünft auf den Gipfel rauf zu gehen. Doch wir haben keine Chance. Im dichten Nebel und Schneetreiben sehen wir bald nicht mehr, wohin der nächste Schritt führt. 300m unter dem Gipfel geben wir auf und kehren völlig durchnässt zur Hütte zurück. Als ich 3 Tage später am Berg vorbei Richtung Süden weiterfahre, hat sich das Wetter gebessert. Als mächtiger, weisser Kegel trohnt er über der Landschaft. Ein phantastischer Anblick.

Cortés - der spanische Eroberer - hat einmal, als er der spanischen Krone vom neuen Land erzählen sollte, ein Blatt Papier genommen, es zerknittert und auf den Tisch gelegt. Besser könnte man die Gegend rund um Oaxaca wohl kaum beschreiben. Es sind keine grossen Berge, aber ein dauerndes Auf und Ab. Durch den Regen der letzten Tage erstrahlt alles in kräftigstem Grün. Ich befinde mich im ehemaligen Gebiet der Zapoteken. Viele der bedeutenden Städte, die sie hier 500 - 700 n. Chr. gebaut haben schaue ich mir an.

Über eine letzte Bergkette erreiche ich in Puerto Angel zum ersten Mal seit bald 2 Monaten wieder die Küste. Ein besseres Anschauungsbeispiel zum Übergang der einzelnen Klima- und Vegetationszonen als die Fahrt mit dem Rad in einem Tag von 2700 m.ü.M. runter zur tropischen Küste gibt es kaum. Aus Nadelbäumen werden allmählich Palmen und mit jedem Meter wird die Luft heisser und feuchter.

Die Fahrt entlang der tropischen Küste wird zur Qual. Die Hitze ist brutal. An einem einzigen Tag schütte ich zehn Liter Flüssigkeit in mich hinein. Dazu belästigt mich ein Gegenwind so stark, dass ich kaum noch voran komme. Doch es ist nicht mehr weit, bis ich in Chiapas wieder in die Berge rauf kann.

Die Fahrt durch das gebirgige Chiapas mit den tollen Wäldern und Seen wird zu einem Höhepunkt dieser Reise. In den türkisfarbenen Pools bei Aqua azul, inmitten des Dschungels könnte ich ewig planschen. In Palenque treffe ich erstmals auf Maya Ruinen.

Bis zum Ziel dieser Reise steht mir noch die Fahrt durch Yukatan bevor.Die Etappen gleichen sich. Ich fahre tagelang auf kaum befahrenen Strassen, die wie von einer grünen Wand aus Pflanzen von beiden Seiten gesäumt werden. Manchmal habe ich das Gefühl, sie wird im nächsten Moment vom Grün geschluckt. Die Papageien-Stimmen die ich ab und zu aus dem Dickicht höre, eine armdicke Schlange auf der Strasse, eine Schildkröte die die Strasse überquert, grosse Spinnen und viele Leguane sind Anzeichen, dass es sich hier um einen Dschungel handelt. 

Erst bei einem Blick von der Spitze einer der vielen Maya-Pyramiden sehe ich so richtig, um welche Dimensionen es sich hier handelt: Eine einzige riesige grüne Ebene soweit das Auge reicht.\r

Fasziniert bin ich von den imposanten Bauten, die die Maya in grosser Zahl hier errichtet haben. Mit dem Rad habe ich die Möglichkeit, auch zu kleinen Ausgrabungsorten zu kommen, wo sonst keine Busse hinfahren.

Angesichts des Klimas hier, ist es nicht verwunderlich, dass für die Maya's der Regengott Chac einer der wichtigsten Götter war. Viele Gebäude sind mit der Maske von Chac mit seiner typischen Hackennase verziert.

Auch bei mir macht er sich bemerkbar. Das zwar nur 15minütige aber derart heftige Gewitter, das er auf mich runterprasseln lässt, schlägt alles bisherige in den Schatten. Schallendes Gelächter ernte ich, als ich beim nächsten Restaurant tropfend wie ein nasser Schwamm vom Rad steige. Bei den hohen Temperaturen ist aber innert Kürze alles wieder trocken. 

'Cenote' steht auf einem Wegweiser. Ich habe erfahren, dass es sich dabei um unterirdische Quellen handeln soll. Bei den momentanen Temperaturen käme mir ein Bad gerade recht. Über eine in den Felsen gehauene Treppe gelange ich in eine Höhle runter. Dort ist ein grosses Becken mit Wasser. Die Wände sind randvoll mit Stalaktiten. In der Decke befindet sich ein Loch von ca. 2 Metern Durchmesser. Der durch diese √ñffnung einfallende Lichtstrahl füllt den Raum mit den tollsten Farben. Als ich im herrlich kühlen Wasser eine Runde schwimme, komme ich mir vor wie im Märchen.

Bei Tulum erreiche ich die karibische Küste. Für die restlichen 150km entlang der Küste habe ich noch fast 2 Wochen Zeit. Langsam aber sicher komme ich in den Bereich des Aktionsradius der Mietauto-Ausflügler von Cancun. Mexico habe ich hinter mir gelassen. Mega-Urlaubs-Resorte beherrschen die Küste. Doch auch hier gibt es noch einige ruhige Strände, an denen ich mein Zelt aufschlage und die letzten Tage mit faulenzend geniesse. 

Sollte ich mich freuen ob des erreichten Ziels, oder traurig sein, weil eine tolle Zeit zu Ende geht? Ich kann mich nicht recht entscheiden und mache mich so mit gemischten Gefühlen auf zur letzten Etappe. Als ich nach 8900km Fahrt quer durch Mexiko am 29. August Cancun erreiche, geht gerade mal wieder ein starkes Gewitter nieder. kurz vor dem Busbahnhof gleitet bei einem Bremsmanöver auf der glitschigen Strasse das Vorderrad weg. Ich stürze und lande auf dem Boden. Lachend sitze ich im strömenden Regen mitten auf der stark befahrenen Strasse: Hier bin ich!